Einführung zu Frank Lippold, Faserland
SKD- Kunstgewerbemuseum Pillnitz, 30.10.2024
Susanne Altmann (gesprochenes Wort)
Die Entscheidung für das Medium Holzschnitt fällte Frank Lippold 1994, mitten im Studium und während Grabesreden für das Tafelbild ertönten (die ja schon seit Längerem gehalten wurden). Die Figuration selber, als Echo von Propagandamalerei lag ohnehin im Koma (nachdem die so genannten Neuen Wilden dies- und und jenseits der deutschdeutschen Grenze noch einmal kräftig auf die Leinwände eingeschlagen hatten).
Kurzum, es war eine sehr seltsame Zeit für jemanden, der in Dresden (oder auch in Leipzig) Anfang der 1990er Jahre mit einem Malereistudium begann. Und da haben wir noch nicht einmal angefangen, über die politischen und sozialen Verhältnisse dieser Dekade zu sprechen. Während an der Leipziger Hochschule HGB die Flucht nach vor praktiziert wurde – das heißt: über das Ende von Tafelbild und Gegenstand einfach nonchalant hinweg gemalt wurde, währenddessen herrschte in Dresden eine gewisse Unentschlossenheit. Anders als in Leipzig gab es in der Lehre auch keine plötzlich erstarkte Medienkunst – gegen die sich malerischer Widerstand gelohnt hätte. Derartige Kollisionen erleichtern bisweilen die Entscheidungen für junge Künstler*innen, in welche Richtung nun zu gehen sei.
Mangels solcher Widersprüche schien es in Dresden nach 1989 vergleichsweise schwieriger, einen Weg, eine künstlerische Orientierung zu finden. Wenn wir denn ein gewisses Ringen als Teil der Selbstfindung akzeptieren. Insofern wird nachvollziehbar, was Frank Lippold, damals im vierten Semester, bewegte. Letztlich wählte er – in diesem persönlichen Schlüsseljahr 1994 – ebenfalls die Flucht nach vorn, mitten hinein in vermeintliche Feindbilder, vermeintliche Anachronismen. Ohne es an die große Glocke zu hängen, traf er eine künstlerische Entscheidung, die gleichzeitig die Entscheidung für ein damals außerordentlich unpopuläres Medium war: Holzschnitt. Aus heutiger Sicht klingt das nicht mehr so revolutionär, denn die grafischen Künste – experimentell und motivisch innovativ – haben (zum Glück) einen erheblichen Aufschwung erfahren. Wir denken sofort an Positionen wie Jan Brokof, Christiane Baumgärtner, Thomas Kilpper, auch an den unbeirrbaren Franz Gertsch. Ich selbst besuchte 1994, während meines Studiums, eine Ausstellung von Künstlerbüchern im New Yorker Museum of Modern Art und fühlte mich wie eine Entdeckerin, angesichts von Anselm Kiefers monumentalem Holzschnittbuch vom Rhein. Wie mutig, dachte ich, dass dieser Deutsche (ausgerechnet) den Klischees trotzt und (wie auch in seinen quasi aus Holzschnitten collagierten Gemälden) diese angeblich verstaubte Technik für sich reklamiert.
Vor diesen Hintergründen aus Trends, Diskursen und Vorurteilen sollten wir Frank Lippolds damalige Entscheidung verstehen. Ihm war völlig bewusst, sozusagen aus der Zeit gefallen zu sein mit seiner Programmatik. Im übrigen – und weil Frank Lippold ein extrem reflektierter Denker ist – ergab sich an dieser Stelle noch eine zweite Entscheidung, die fast noch seltsamer ist (zumal für einen 24jährigen Kunststudenten) als jene für das Medium. Nämlich, das eigene Werk als Spätwerk, vom Schlusspunkt her nicht nur zu denken – sondern auch auszuführen. Wer bereits gestorben ist, zumal als Künstler*in, hat nichts mehr zu verlieren – nur zu gewinnen. Beeindruckend, diese jugendliche Entschiedenheit Frank Lippolds, hier nicht nur ein Gedankenspiel aufzuführen, sondern den Plan einer kreativen Rückentwicklung praktisch umzusetzen. Aus Perspektive einer Kunsthistorikerin mutet das fast noch gewagter an, weil Spätwerke bekanntermaßen oft gar nicht mehr als Glanzpunkte wahrgenommen werden. Von Tizian oder Rembrandt einmal abgesehen.
Also Spätwerk. Es beginnt schwarz – nicht als Quadrat (das hätte auch keine besondere Bedeutung, weil ja Malewitsch, dieser Revoluzzer, nach dem proklamierten Ende der Malerei – vor gut 100 Jahren – wieder zur Figur zurückkehrte). Es begann also für Frank Lippold mit einem schwarzen Rechteck (winzig im Vergleich zu den heutigen Formaten, fast ein Verlöschen) als Symbol für einen Endpunkt, und mit einer Holztafel, die dieses Statement trug. Schluss, aus und alles auf Anfang. Von diesem inszenierten, autobiografischen Schlüsselmoment an bewegte sich alles rückwärts – glücklicherweise, und der Technik des Holzschneiden geschuldet, sehr langsam, in Echtzeit gleichsam. Insofern begegnet uns in Frank Lippold ein konsequenter Konzeptkünstler; einer, der (wie Roman Opalka, Hanne Darboven oder On Kawara) die eigene Lebenszeit und die Vergänglichkeit als Stilmittel einsetzt. Genauso langsam, aber eben rückwärts.
Etwa um das Jahr 2000 sah ich die ersten geschnittenen Holztafeln von Frank Lippold und war begeistert. Sie wirkten, als hätte sich das ästhetisch vermeintlich Unzeitgemäße in sein Gegenteil verkehrt, und zu einer gültigen, differenzierten Reaktion auf die (früh)digitalen Bildwelten gewandelt. Damals hatte Frank Lippold schon seit einiger Zeit aufgehört, die Platten vom Drucken auf ein Blatt hin zu denken. Diese großen Naturstücke (von denen es in aktuellen Werken Anklänge gibt) genügten ihm und sich selbst als autonome Druckstöcke. Der Prozess des Einwalzen und Druckens, ja selbst des Nachdenkens darüber, welche Kontraste sich später darstellen würden – das alles existierte nur noch als Hinweis, als Möglichkeit für die Betrachter_innen, als Zitat einer kunstgeschichtlichen und -technologischen Variation. Ich schaute mir damals also diese opulenten und doch kargen Baumlandschaften an und hatte keine Ahnung. Überhaupt keine Ahnung davon, dass sie Vektoren waren, die nicht linear in die Zukunft (des Künstlers beziehungsweise „der“ Kunst) wiesen, sondern aus der Zukunft heraus gedacht waren, vom Ende her. Vielleicht war es gut, diesen komplexen und gestrengen Ansatz vor gut 20 Jahren nicht er- oder gekannt zu haben. Als Philosophin hätte mich das wohl metaphysisch überfordert, und als ehemalige Krankenschwester eher in Sorge um den Künstler versetzt.
Heute fällt mir es etwas leichter und Ihnen hoffentlich auch, diesen radikalen Schritt vom schwarzen Rechteck zurück nachzuvollziehen. Und nicht nur aufgrund einer besonderen Denkleistung, sondern auch aus der unmittelbaren Anschauung heraus: Aktuell haben wir hier, nach dreißig Jahren, ein beginnendes Jugendwerk vor uns. Schließlich hat Frank Lippold seine mühsame Selbstfindung schon vor Jahrzehnten abgeschlossen und ist jetzt frei. Er ist auch frei – wer hätte das gedacht – von Urteilen über den Holzschnitt per se, der ja ähnlich wie der Linolschnitt, mittlerweile wieder als sehr gegenwärtig gelesen wird. Hierfür sei die letzte Documenta in den Zeugenstand gerufen, wo sich ausgerechnet an Holzschnitten (das wird oft vergessen) geradezu ein Kulturkampf entfaltet hatte. In diesem Falle handelte es sich um, damals bereits gut zwanzig Jahre alte politische Protestplakate – aus einer anderen Weltgegend, einer Region, wo es auch um die niedrigschwellige Verfügbarkeit von Botschaften ging, für deren Reproduktion der Hochdruck das Mittel der Wahl bildete. Hier im Osten Deutschlands könnten wir uns daran erinnern, dass Hoch- und Siebdruck in einer Zeit, in der es kaum Kopierer, kaum Drucker etc. gab, Vervielfältigung und Sichtbarkeit garantierte. Auch das ist ein Aspekt dieser Technik, der unbedingt mitzudenken ist – vorallem wenn wir (jenseits des puren Kunstgenusses) die Tragweite und Differenz von Frank Lippolds Weg einschätzen wollen.
Ein weiterer Exkurs: Letztendlich erinnert dieser, sein Weg im Kontext von 1994 auch an die einstige Situation der Brücke-Künstler um 1910. Nicht aufgrund ihrer Dresdner Wurzeln, sondern vielmehr, weil auch sie – als völlige Außenseiter des gründerzeitlichen Kunstbetriebs – den Holzschnitt entstaubten, und ihm einerseits als reproduktives Medium für eigene Werbezwecke ein neues Leben verliehen und andererseits eine zeitgenössische Ästhetik verliehen, die auf das Kunstpublikum zunächst verstörend wirkte. Heute sind die Werke der vier Architekturstudenten von der Technischen Hochschule Klassiker.
Und überhaupt Holz: In der Umbruchszeit der vorletzten Jahrhundertwende gingen Künstler*innen, Architekt*innen und Handwerker*innen plötzlich viel bewusster mit dem Holz als Material um. Grenzen zwischen „hoher“ Kunst und Kunsthandwerk wurden eingerissen, und der Besonderheit dieses Materials ganz neue Aufmerksamkeit geschenkt. Denken wir an die praktische Philosophie eines Karl Schmidt-Hellerau, der gezielt Kreative in seine Dresdner Werkstätten für Handwerkskunst, einlud und darauf aufmerksam machte, welches Potenzial überhaupt in diesem Werkstoff lag. In einem Statement plädierte Karl Schmidt dafür, einen Baum geradezu als Urheber einer Materialerzählung zu betrachten – sinngemäß: das Brett von einem Baum, der auf einer stürmischen Höhe stand, hat eine andere Geschichte zu erzählen als jenes von einem Baum aus der Mitte des Waldes. Nicht umsonst ließen die Brücke-Künstler häufig die Maserung ihres Druckstocks absichtlich durchscheinen und ein stilistisches Element bilden, genauso wie die oft rohen Spuren der Schnitzwerkzeuge. Von diesen Möglichkeiten profitieren die Tafeln von Frank Lippold ebenfalls – auch wenn sie aus standardisierten Sperrholzplatten bestehen. Nicht umsonst hat er mit dem Titel dieser Präsentation „Faserland“ nicht auf einen so genannten Kultroman mit gewisser Patina hinweisen wollen, sondern eben auf den Faserverlauf seines ureigenen Werkstoffes.
An den Titeln von Frank Lippolds frühen (das heißt natürlich: späten Werkgruppen) werden seine Auseinandersetzungen mit dem Material ebenfalls ablesbar. Anfangs noch gedruckte Motive, aus dem Dunkel verschwommen aufscheinende Landschaften oder ganz flächig aufgefasste Porträtköpfe heißen „Brettspiel“ oder „Holzwege“. Das klingt witzig, denn zum Glück ist Frank Lippold nicht nur ein profunder Denker, sondern auch ein humorvoller Typ. Daneben sind Bezeichnungen wie „Brettspiel“ oder „Holzwege“ genauso als Programmpunkte seines Widerstands gegen die Konventionen der Beliebigkeit zu verstehen.
Sein Zyklus „Tafelbild“, dann schon frei von Ambitionen für den Druck, spiegelt einmal mehr diesen Sonderweg. Denn natürlich handelt es sich nicht um herkömmliche Tafelbilder (die hatte der Zeitgeist ja eh für obsolet erklärt, erklären wollen), sondern um beim Wort genommene Holztafeln mit Bildern darauf. Salopp gesagt. Normiertes Sperrholz aus dem Baumarkt. Wie tief konnte das Tafelbild denn noch sinken? Es waren die Technik, extrem sicher und effektvoll ausgeführt, und die oft fast übertrieben romantischen Motive, die das TAFELBILD über einige Umwege wieder zu sich selbst zurückführten. Genauso dürfen wir uns einen reflektierten, reifen Künstler und sein Schaffen denken.
Heute, am Beginn seiner Laufbahn stehend (sic!), geht Frank Lippold mit weniger Reduktion vor, auch hat er noch nicht (sic!) die Reinheit des Mediums Holzschnitt im Blick. Er mischt unbefangen Abstraktion und Figuration, er malt unter und über der geschnittenen Bildebene, lässt – besonders bei den Packbändern ikonografische Referenzen zu Kommerz und Werbung einfließen und manchmal lässt er uns sowohl die Strenge seines „Spätwerks“ vergessen wie auch sein selbst verordnetes Regelwerk. Ein junger Künstler also.
Susanne Altmann
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Katalogtext zur Ausstellung: Die heimliche Perspektive,
Städtische Galerie Dresden- Kunstsammlung 2020
Text: Tobias Burg, Museum Folkwang
Von Scharfenberg nach Trojamentora
Keine druckgrafische Technik in der europäischen Kunst ist älter als der Holzschnitt. Seine Geschichte beginnt in der Mitte des 15. Jahrhunderts und setzt sich ohne Unterbrechung bis heute fort. Auch wenn das Spektrum künstlerischer Arbeitstechniken und Ausdrucksformen im 21. Jahrhundert so breit ist wie nie zuvor in der Kunstgeschichte, behauptet sich der Holzschnitt als ein Medium, das sich nicht nur motivisch, sondern auch technisch und konzeptuell immer weiter entwickeln, ja geradezu neu erfinden lässt. Hier sei nur auf Künstlerinnen und Künstler wie Miguel Barceló (*1957) Christoph M. Loos (*1959), Barthélémy Toguo (*1967), Christiane Baumgartner (*1967), Andrea Büttner (*1972) oder die Brüder Gert und Uwe Tobias (*1973) ver- wiesen, die alle auf je eigene Weise ein neues Kapitel im Umgang mit dieser alten Technik aufgeschlagen haben. Frank Lippold kommt in dieser Reihe von – wenn man so will – Holz- schnitt-Erneuerern eine Sonderstellung zu. Für ihn ist der Holzschnitt nicht nur das entschei dende künstlerische Medium, trotz gelegentlicher Ausflüge in das Gebiet der Malerei. Darüber hinaus hat Lippold einen so spezifischen Zugriff auf diese Technik entwickelt, dass man fragen kann, ob seine Arbeiten tatsächlich noch der Gattung zuzurechnen sind.
Die Anfänge dieser Entwicklung reichen in sein Studium der Malerei und Grafik an der Hochschule für Bildende Künste Dresden zurück, das er von 1991 bis 1996 absol- vierte. Damals – genauer 1994 – begann er mit der Holzschnittserie Brettspiel (Abb. S. 22, 35, 40, 75 und 76). Die einzelnen Werke dieser Serie zeigen frontal zu sehende, stark abstrahierte Köpfe. Bereits bei dieser Serie faszinierte den damals 24 Jahre alten Studenten der optische und haptische Reiz, der von den für den Druck eingefärbten Druckstöcken ausging, für die er schlichte Sperrholzplatten verwendete. Er entschloss sich kurzerhand, neben den Abzügen auf Papier auch die Druckstöcke dieser Serie als eigenständige Kunstwerke gelten zu lassen, die ausgestellt, beurteilt und verkauft werden können.
Dies bedeutet eine Umkehrung der klassischen Hierarchie: Auch wenn bei der Herstellung von Holzschnitten der Druckstock das Objekt ist, an das der Künstler oder die Künstlerin zumindest seit dem frühen 20. Jahrhundert buchstäblich selbst Hand anlegt, wird diesem in der Regel wenig Beachtung geschenkt, denn der gesamte Prozess zielt ja auf die Her- stellung von Abzügen auf Papier. Diese Druckgrafiken werden dann in der Regel gar nicht vom Künstler selbst, sondern von spezialisierten Druckwerkstätten produziert; die Mitwirkung des Künstlers beschränkt sich auf die Überwachung des Druckprozesses und das Signieren der grafischen Blätter nach Fertigstellung der Auflage. Je nach Editionsprojekt kann es sogar vorkommen, dass der Druckstock anschließend zerstört oder unbrauchbar gemacht wird, um Nachdrucke zu verhindern. Frank Lippold dreht also den Spieß um, wenn er zunächst die Druckstöcke gleichberechtigt mit den Abzügen ausstellt und – bald darauf – auf die Herstellung von Abzügen gänzlich verzichtet. Von Druckstöcken kann man in seinem Fall also nicht mehr sprechen. Treffender lassen sich die bearbeiteten Holzplatten tatsächlich als Holzschnitte bezeichnen, was einerseits deren Ebenbürtigkeit mit den genauso bezeichneten Abzügen auf Papier herausstreicht und andererseits auf den Arbeitsvorgang des Schneidens in Holz verweist, der zu ihrer Herstellung erforderlich ist.
Der Verzicht auf die Produktion von Abzügen führt zu einer wichtigen Veränderung bei der Bearbeitung der Holzplatten. Ein herkömmlicher Druckstock wird üblicherweise erst dann mit Farbe belegt, wenn das zu druckende Motiv bereits hineingeschnitten wurde und nun Abzüge hergestellt werden sollen. Bei Frank Lippold steht das Einfärben der Platte hingegen am Beginn seiner Arbeit. Er überzieht die Sperrholzplatten mit schwarzem Acryllack und schneidet anschließend mit scharfem Messer Vertiefungen hinein, an denen der Farbton des Holzes wieder zutage tritt. Je nachdem, bis zu welchen Schichten des aus mehreren Lagen aufgebauten Sperrholzes er vordringt, kommen unterschiedliche Holzfärbungen zum Vorschein. Der Zusammenklang dieser Holzfarben mit dem Schwarz des Acryllacks trägt wesentlich zur malerischen Wirkung der Arbeiten Frank Lippolds bei, denen das nüchterne »Schwarz auf Weiß« klassischer Holzschnitte auf Papier abgeht. Dass Lippold die Farbe schon zu Beginn auf die Platte aufträgt, hat zwei wichtige Vorteile: Zum einen hat er von Anfang an die volle optische Kontrolle über das allmählich entstehende Werk, anders als ein klassischer Holzschneider, der zunächst einen Probeabzug erstellen muss. Zum anderen ermöglicht ihm diese Arbeitsweise, schmalste Linien in die Platte zu schneiden, die von der Farbe zugesetzt würden, wenn er diese erst am Schluss auf brächte.
Den Schritt weg vom Papierabzug hin zur künstlerischen Autonomie der bearbeiteten Holzplatten hatte Frank Lippold bereits vollzogen, als er im Jahr 2003 nach Schloss Scharfenberg zog, einer verträumten, seinerzeit noch im Dornröschenschlaf liegenden Burganlage oberhalb der Elbe, unweit von Meißen. Schon im frühen 19. Jahrhundert wurde Schloss Scharfenberg von Künstlern und Schriftstellern der Romantik aus Dresden geschätzt und auf- gesucht, nach 1990 knüpfte hieran ein Stipendienprogramm an, das Künstlerinnen und Künst- lern mehrmonatige Aufenthalte am Ort ermöglichte. Im Falle Frank Lippolds war es allerdings kein Stipendium, das ihn nach Schloss Scharfenberg führte, sondern die bewusste Entscheidung für ein Arbeiten inmitten von Natur und altem Gemäuer. Auch wenn ihn Künstlerresidenzen in den folgenden Jahren zeitweilig nach Bad Ems, Schöppingen oder Eckernförde führten, blieb Scharfenberg für mehr als ein Jahrzehnt der Lebensmittelpunkt des Künstlers. Erst im Jahr 2014 zog er nach Baden-Baden, wo er bis heute lebt.
Der Wechsel von der Großstadt Dresden aufs Land spiegelt sich im Œuvre des Künstlers wider. Seine ganze Aufmerksamkeit gilt nun einem Thema, das ihn bereits seit den späten 1990er Jahren immer wieder beschäftigt hat – der Landschaft. Lippold durchstreift die Umgebung von Schloss Scharfenberg auf der Suche nach Situationen und Blickwinkeln, die als Ausgangspunkt seiner Holzschnitte dienen können. Dabei reizt ihn besonders das Nebeneinander von Landschaft und Architektur. Die Realisierung der Werke erfolgt im Atelier im Schloss, aber auch in der Landschaft selbst. Diese Arbeit vor dem Motiv ist kein kleines Unterfangen, denn die Platten haben eine beträchtliche Größe – das bis heute von Lippold bevorzugte Format beträgt 122 × 244 Zentimeter, eine industrielle Standardgröße für Sperrholzplatten. Auf die Herstellung von Vorzeichnungen verzichtet er weitgehend.
Die naheliegende Vermutung, dass dieses Leben und Arbeiten inmitten der Natur zu Bildern führt, die sich durch präzise Wiedergabe des Gesehenen auszeichnen, ist nicht zutreffend, Werke wie Oberbaum und Unterbaum (beide 2002, Abb. S. 9/10), die jeweils – wie der Titel angibt – die obere bzw. untere Hälfte eines Laubbaums auf einer Wiese darstellen, sind die Ausnahme. Beobachtungen spielen eine wichtige Rolle, doch sind sie in der Regel nur der An- lass für Werke, deren Realitätsnähe für den Betrachter nicht einfach nachzuvollziehen ist. So erscheint Sommerloch (2003, Abb. S. 6/7) zunächst wie die detaillierte Wiedergabe einer bestimmten Landschaftssituation. Allerdings folgt dieser Holzschnitt geradezu idealtypisch den Komposi- tionsprinzipien einer gemalten Ideallandschaft (asymmetrischer Vordergrund, ein Weg, der in die Bildtiefe führt, unterschiedlich starke Verschattungen, die räumliche Tiefe erzeugen), weshalb die präsentierte Szenerie ebenso gut konstruiert wie beobachtet sein könnte. Gleichzeitig schwingt etwas Unwirkliches in der Darstellung mit, was nicht zuletzt von den schwarzen Flächen hervorgerufen wird, die das Landschaftsmotiv umgeben: Zunächst waren sie deutlich sichtbar als ovale Umfassung angelegt, doch Lippold hat auch jenseits der ovalen Begrenzungslinie weitergearbeitet und schwarze Farbe entfernt, bis sich eine ganz und gar unregelmäßige Form ergab, deren Dramatik die Ruhe der Landschaft konterkariert und dem gesamten Werk eine surreale Wirkung verleiht.
Es ist dieses Mit- und Gegeneinander von landschaftlichen Motiven und abstrakten Formen, das die auf Schloss Scharfenberg entstehenden Arbeiten auszeichnet. Dabei unterliegen auch die Pflanzen- und Landschaftsmotive einer Metamorphose, wenn etwa auf dem Holzschnitt Balz (2011, Abb. S. 14) das Blätterwerk eines Baums zu einer wildbewegten Linien- formation mutiert, die wie das gespreizte Gefieder eines liebestollen Vogels erscheint. Auch architektonische Motive entwickeln nun ein erstaunliches Eigenleben. Sie werden in extremer perspektivischer Verkürzung und fragmentiert gezeigt – ganz so, als habe ein CAD-Programm verrückt gespielt. Mit dieser Thematik beschäftigt sich Lippold über einen langen Zeitraum. Eines der jüngsten Beispiele dieser Gruppe ist Tafelwerk (Chiastik) von 2015 (Abb. S. 63/64). Der Titel lehnt sich an die rhetorische Figur Chiasmus (überkreuzt) an; in der Tat überkreuzen sich hier ver- schiedene Perspektiven und bilden dennoch eine einheitliche Komposition.
Generell kommen Bildräume mit einheitlicher Perspektive im Schaffen Frank Lippolds fast gar nicht vor. Im Gegensatz dazu haben Binnenmotive oft eine beträchtliche räumliche Wirkung, die durch kräftige schwarze Schlagschatten – unbearbeitete Flächen der Holzplatte – hervorgerufen werden. In Kombination mit Landschaftsmotiven wirken diese plastisch- geometrischen Formen wie nicht von dieser Welt – vergleichbar dem schwarzen Monolith in Stanley Kubricks »2001: Odyssee im Weltraum« (1968). Ohnehin fühlt man sich nicht selten an die technische Ästhetik von Science-Fiction-Filmen erinnert, deren das Weltall durchstreifende Raumschiffe nicht zuletzt dadurch optische Plausibilität erlangen, dass ihr Äußeres durchweg mit extremen Verschattungen gezeigt wird, egal, wie weit der nächste Stern entfernt ist. Im Holzschnitt Riff (2016, Abb. S. 11) scheint ein solches Raumschiff in unmittelbarer Nähe am Betrachter vorbei zu schweben. Er gehört zu den seit 2014 entstehenden Werken, bei denen land- schaftliche oder architektonische Motive weitgehend durch geometrische oder kristalline Strukturen ersetzt werden.
Mit der motivischen Loslösung von der beobachteten Welt geht eine weitere wichtige Neuerung im Schaffen des Künstlers einher – die Einbeziehung von Farbe. Hierzu hat Frank Lippold drei verschiedene Methoden entwickelt. Eine Option besteht darin, die unbearbeiteten Platten in einer Reminiszenz an das Action Painting der 1950er Jahre mit unterschiedlichen Farben zu bemalen. Im Gegensatz zum kontrollierten Hineinarbeiten der Motive in die schwarze Platte spielt hier der Zufall eine wichtige Rolle – unvorhersehbare Spritzer und Farbverläufe sind durchaus erwünscht. Wenn die Farben getrocknet sind, wird die gesamte Platte wie gewohnt mit Schwarz überzogen und weiter bearbeitet. Schneidet Lippold in die Platte, kann er die Farbe(n) unter dem Schwarz wieder freilegen. Dabei bilden die amorphen Farbflächen einen wirkungsvollen Gegensatz zur geometrischen Strenge der schwarzen Formen. Empfindet er die Farbe an einer bestimmten Stelle als unpassend, schneidet Lippold tiefer ins Holz, entfernt die Farbschicht damit und legt den Farbton des Holzes frei. Eine weitere Option zur Einbeziehung von Farbe besteht darin, die Platte nur an bestimmten Stellen mit Schwarz zu überziehen, andere Bereiche hingegen mit Blau oder Rot zu bemalen und dann in diese Farben hineinzuschneiden. Manchmal wird das Schwarz vollständig durch eine andere Farbe ersetzt. Noch markanter als diese großflächige Verwendung von Farbe ist jedoch die Einfügung mehrfarbiger Streifen – die dritte von Frank Lippold entwickelte Option, Farbe zu verwenden. Form und Verlauf dieser Streifen, die sich oft über größere Abschnitte eines Werks erstrecken, werden beim Bearbeiten der schwarzen Platte festgelegt, ihre Bemalung erfolgt dann als letzter Arbeitsschritt. In ihrem Verlauf wechseln diese Streifen immer wieder die Farbe, wobei die Übergänge von einem Farbton zum nächsten fließend sind und der Pinselstrich sichtbar bleibt. Alle drei Optionen ent- wickelt Lippold in den größtenteils gegenstandsfreien Holzschnitten aus dem Zeitraum von 2014 bis 2017. In diesen Jahren entsteht zunächst die Serie Ambitus (Abb. S. 12, 38/39, 41, 42 und 65), die dann ab 2016 um die Serie Schwarze Zahlen (Abb. S. 36/37, 45 und 74) ergänzt wird. Es sind drama- tische, auseinanderstrebende Kompositionen voller Dynamik, die manchmal wie Momentaufnahmen einer Explosion erscheinen.
Es erscheint wie ein logischer Schritt, dass Frank Lippold im Jahr 2017 nach dieser ungemein expressiven Werkphase mit der Realisierung von Arbeiten beginnt, die die in den Jahren zuvor erarbeiteten Möglichkeiten insbesondere im Umgang mit der Farbe nutzen, kompositorisch jedoch eine neue Beruhigung und Klarheit aufweisen. Drei Bildelemente kommen in diesen Werken immer wieder zum Einsatz: Schmale parallele Linien überziehen die Platte großflächig. Ändert sich die Richtung dieser Linien, entsteht ein räumlicher Eindruck, so, als ob die Oberfläche eines Körpers nach hinten abkippt. Ein zweites Bildelement sind einheitliche Farbflächen (Schwarz kommt in der Serie fast nicht mehr vor), die häufig, aber nicht immer, die Gestalt von Dreiecken annehmen. Als drittes wesentliches Bildelement fügt Lippold auf mehreren Arbeiten dieser Serie schmale Einzellinien hinzu, die aus dem System der parallelen Linien aus- brechen, von einer Seite der Platte zur anderen reichen und über dem Untergrund zu schweben scheinen. Oft werden sie durch eine spezifische Farbigkeit akzentuiert. Landschaftliche oder ar- chitektonische Elemente fehlen hier gänzlich, die letzte Verbindung zur realen Welt ist gekappt. Stattdessen entwickelt Frank Lippold hier Kompositionen, deren Status zwischen Zwei- und Drei- dimensionalität oszilliert. Sie lassen sich weder eindeutig als Flächenkompositionen lesen, noch fügen sich ihre räumlichen Elemente zu einem geschlossenen dreidimensionalen Gebilde zusammen. Es sind Formen in einem Zwischenstadium.
Mit dieser formalen Offenheit korrespondieren die Titel, die Frank Lippold diesen Arbeiten gegeben hat. Von Beginn an spielen Werktitel in seinem Schaffen eine wichtige Rolle, Arbeiten ohne Titel sind für ihn keine Option. Schon seiner ersten, noch im Studium entstandenen Serie gab er den halb ironischen, halb programmatischen Titel Brettspiel, der auf die Be- deutung des sich damals verselbständigenden Druckstocks hinwies. In den folgenden Jahren wählte Lippold immer wieder Titel, die sich zum Dargestellten in Beziehung setzen lassen. Manche Titel der jüngsten Arbeiten stehen noch in dieser Tradition: Fig. 6, Levitate (englisch: frei schweben, Abb. S. 58/59) könnte sich auf die blaue Linie beziehen, die sich über den so betitelten Holzschnitt erstreckt, wie schwebend über dem linearen Untergrund. Fig. 8, Luminous (Abb. S. 52/53), also leuch- tend, ist die schmale, gelb-orange Linie, die in der gleichnamigen Arbeit ins Auge fällt. Bei den meisten Titeln dieser Werke handelt es sich jedoch um erstaunliche Neuschöpfungen: Fig. 9, Trojamentora, Fig. 13, Subrosa Sinfona oder Fig. 23, Quandristonie (Abb. S. 54/55, 46/47 und 56/57). Es sind Wörter, von denen einzelne Teile aus dem einen oder anderen Sprachsystem entlehnt sein mögen, die als Ganzes jedoch zunächst einmal nicht deutbar sind. Sie eröffnen Möglichkeitsräume auf sprachlicher Ebene, wie dies die Holzschnitte, die sie bezeichnen, auf formaler Ebene tun.
Tobias Burg